Sammelt Brennessel - Kriegsnot 1918:
Wir schreiben das Kriegsjahr 1918. Immer spürbarer wird im damaligen Deutschen Reich, dass der vier Jahre zuvor begonnene Krieg eben nicht in wenigen Monaten vorbei war. Schon zu Beginn des Krieges w
urden viele Güter des täglichen Lebens von staatlicher Seite bewirtschaftet. Je länger nun der Krieg dauerte, umso kleiner wurden die Lebensmittelvorräte, umso seltener wurden manche Rohstoffe.
Metallsammlungen machten auch vor Kirchenglocken nicht halt. Lumpen wurden recycelt, auch wenn es dieses Wort damals noch gar nicht gab. Für die Fettversorgung wurden im großen Stile Bucheckern gesammelt, Steckrüben und Obst wurden zur täglichen Nahrung. Und für die Versorgung mit Spinnstoffen wurde die Brennnessel wieder entdeckt.
Wolle und Leinen wurden für Kriegszwecke gebraucht, Baumwolle konnte aufgrund der Blockade der Häfen aber nicht importiert werden. Also musste man sich mit heimischen Pflanzen behelfen. Flachs - für Leinen, und Brennnessel für feinere Stoffe. Und während Flachs und Hanf im landwirtschaftlichen Betrieb angebaut wurden, musste die Brennnessel da geerntet werden, wo sie wuchs.
Zuerst kam es im Sommer 1915 zum "Herstellungsverbot für Erzeugnisse aus Bastfasern (Jute, Flachs, Namie, europäischer Hanf und überseeischer Hanf)". Bedeutet: Der zivile Verbrauch dieser Stoffe wurde verboten zu Gunsten der militärischen Nutzung. Und bereits wenige Tage später erfolgte die "Ankündigung einer genauen Bestandserhebung aller Bastfaserstoffe und Erzeugnissen aus Bastfasern".
Bereits zum 1. Februar des folgenden Jahres 1916 erfolgte die "Beschlagnahme und Bestandserhebung von Bekleidungs- und Ausrüstungsstücken für Heer, Marine und Feldpost"
und wenige Wochen später wurde veröffentlicht, welche Höchstpreise für "Lumpen und neue Stoffabfälle" gerechnet werden dürfen.
Aber das sollte nicht genügen - also wurden im ganzen Deutschen Reich Brennnesseln gesammelt, um daraus Faden und Stoffe herzustellen.
Das Weilburger Tageblatt vom 26. Juni 1916 berichtet, dass sich nunmehr die preußische Regierung der Sache angenommen und eine großzügige Organisation zur Einsammlung von Brennnesseln in die Wege geleitet hat und die Öffentlichkeit darüber aufklären läßt, daß es sich um eine wichtige nationale Aufgabe handelt. Auf Anordnung des Landwirtschaftsministers haben sämtliche preußischen Landräte das Einsammeln von Brennnesseln eingeleitet. An den Kultusminister wurde die Bitte gerichtet er möge baldmöglichst anordnen, daß die Lehrer und Schulkinder bei der Einsammlung der Brennesseln mitzuwirken haben.
Alle Behörden wurden also mit Rücksicht auf die Bedeutung der Angelegenheit angewiesen, die Einsammlung und Verwertung der Brennessel auf jede Weise unterstützen.
Sache der Jugend war es nun, ihr erreichbare Gebiete zu durchstreifen und unter Anleitung von Aufsichtspersonen nach den erteilten Anweisungen beim Einsammeln der Brennesselstauden mitzuwirken.
Der Landrat des Oberlahnkreis wies seine Bürgermeister im Juni 1916 daher an, daß Brennesseln in großen Mengen gesammelt werden muß und zwar sofort, da die besten Zeit des ersten Brennesselschnittes in die Zeit vom 20. Juni bis zum 10. Juli fällt. Soweit nicht die Eigentümer der Grundstücke die Aberntung der Brennessel übernehmen wollen, soll sie durch ältere, gebrechliche, für die schweren landwirtschaftlichen Arbeiten nicht mehr brauchbare Männer und Frauen oder durch die Schulkinder - nach Verständigung mit den Herren Ortsschulinspektoren und Lehrern - ausgeführt werden.
Die bayerische Nesselstelle München hat zum Zwecke der Förderung der Sammelmengen gezielt Plakate und Postkarten wie die abgebildete hergestellt und in Umlauf gebracht hat.
Das Brennesselnsammeln war aber nicht nur eine nationale Pflicht, sie sollte auch angemessen entlohnt werden. Während im Oberlahnkreis im Juni 1916 für entblätterte und sorgfältig gebündelte Brennesselstengel 10 Mark für 100 kg bezahlt wurden, waren es im September 1918 für den Zentner getrockneter und entblätterter Nesselstengel bereits 14 Mark. Außerdem wurde den Sammlern für je 10 kg völlig getrockneter und entblätterter Stengel je ein Wickel Nähgarn als Prämie gegeben. 1 kg Brennesselsamen wurden mit 20 Mark vergütet.
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